Washington. Zunehmende Hackerangriffe aus Russland sorgen für frostige Stimmung in den USA. US-Präsident Biden warnt Putin vor einer Eskalation.

Man sollte sich von dem Lächeln des netten älteren Herrn nicht täuschen lassen. Beim Gipfel Mitte Juni in Genf hatte US-Präsident Joe Biden noch einen zivilisierten Austausch mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin. Jetzt zeigt Biden, dass er auch anders kann.

"Ich denke, es ist mehr als wahrscheinlich, dass wir in einem Krieg enden werden – einem echten Krieg mit einer Großmacht – als Folge eines Cyberangriffs von großer Tragweite, und die Wahrscheinlichkeit nimmt exponentiell zu", sagte der Präsident bei einem Besuch des nationalen Nachrichtendienstes (ODNI). Die Regierung in Washington sehe eine wachsende Bedrohung durch Russland und China.

Biden absolvierte am Dienstag (27. Juni) seinen Antrittsbesuch in der der Zentrale von Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines in McLean vor den Toren Washingtons. Die Organisation unter dem Kürzel ODNI ist für die Abstimmung aller 17 US-Geheimdienste (NSA, CIA etc.) verantwortlich. Biden sprach vor rund 120 Mitarbeitern.

"Putin sitzt an der Spitze einer Wirtschaft, die Atomwaffen hat und sonst nichts"

Der Chef des Weißen Hauses warf Moskau in seiner Rede eine Einmischung in die US-Kongresswahlen im Jahr 2022 durch die Verbreitung von Fehlinformationen vor. "Schauen Sie sich an, was Russland bereits in Hinblick auf die Wahlen 2022 unternimmt", sagte Biden. "Das ist eine reine Verletzung unserer Souveränität."

Biden griff Putin mit scharfen Worten an: Der Kremlchef habe "ein echtes Problem, er sitzt an der Spitze einer Wirtschaft, die Atomwaffen hat und sonst nichts", sagte Biden. "Er weiß, dass er in Schwierigkeiten steckt, was ihn in meinen Augen noch gefährlicher macht."

Zahl der Cyberangriffe mit Ransomware stieg an

Der US-Präsident äußerte sich zudem besorgt über den jüngsten Anstieg an Cyberangriffen, unter anderem durch die Schadsoftware Ransomware, bei der Hacker die Daten ihrer Opfer verschlüsseln und Geld für die Wiederherstellung des Zugangs verlangen.

Das Thema Cybersicherheit steht auf der Agenda der Biden-Regierung weit oben. Zuletzt hatte eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Angriffen auf Unternehmen wie die Netzwerkmanagementfirma Solarwinds, die Firma Colonial Pipeline, den Fleischverarbeitungsbetrieb JBS und die Softwarefirma Kaseya den USA weit mehr geschadet als den gehackten Unternehmen.

Cyberangriffe waren Bedrohung für die Lebensmittelversorgung in den USA

Die Computer-Netze der Unternehmen wurden digital in Geiselhaft genommen, bis Lösegeld in Millionen-Höhe gezahlt wurde. Weil ein Teil der Angriffe die Versorgung mit Lebensmitteln (Fleisch) und Treibstoff (Benzin) in weiten Teilen der USA massiv einschränkte, spürte die breite Öffentlichkeit zum ersten Mal hautnah, wie verwundbar lebenswichtige Infrastrukturen bei Cyber-Attacken sind. US-Geheimdienste halten russische Akteure für die Verursacher.

Finanzielle Sanktionen gegen Russland verhängt

Für den Angriff mit der Software SolarWinds im Jahr 2020 verhängten die USA bereits finanzielle Sanktionen gegen Russland. Beim Gipfeltreffen in Genf Mitte Juni drohte Biden Wladimir Putin mit nicht näher beschriebenen Konsequenzen, falls Moskau Cyber-Kriminellen nicht das Handwerk legt, die von russischem Territorium aus Angriffe auf die USA durchführen.

Zudem legte Biden dem russischen Präsidenten einen digitalen Nichtangriffspakt vor. Danach sollen 16 Sektoren wichtiger Infrastruktur-Einrichtungen (Strom- und Wasserversorgung, Atomkraftwerke, Wahlsystem, Krankenhäuser, Flughäfen etc.) von künftigen Cyber-Aktivitäten beider Großmächte ausgenommen werden. Der Kreml bestreitet jede Verantwortung für die besagten Cyber-Angriffe.

Biden sieht auch China als Bedrohung

Biden sieht aber auch das geopolitische Expansionsstreben Pekings als Bedrohung. Dem chinesischen Präsident Xi Jinping sei es „todernst" damit, China bis 2040 zur „mächtigsten Militärmacht der Welt” zu machen.

Chinas Staatspräsident Xi Jinping weist Vorwürfe zurück, sein Land sei an Cyberangriffen beteiligt.
Chinas Staatspräsident Xi Jinping weist Vorwürfe zurück, sein Land sei an Cyberangriffen beteiligt. © IMAGO / Xinhua

Erst vor wenigen Tagen hat der Präsident Peking direkt für einen Cyber-Angriff verantwortlich gemacht. Dabei geht es um das E-Mail-System von Microsoft. Durch diese Attacke wurden Hunderttausende Computer und Netzwerke weltweit potenziell zum Ziel von Hacker-Angriffen.

US-Außenminister: China hat ein „Ökosystem mit kriminellen Auftragshackern” geschaffen

Bidens Außenminister Antony Blinken sagte, dass das chinesische Ministerium für Staatssicherheit Hacker für den Angriff auf Microsoft angeheuert und bezahlt habe. Blinken sprach davon, dass China ein ganzes „Ökosystem mit kriminellen Auftragshackern” geschaffen habe. Diese Kriminellen kosteten „Regierungen und Geschäfte Milliarden von Dollar an gestohlenem geistigem Eigentum, Lösegeldzahlungen und Präventionsmaßnahmen.”

Chinesiche Regierung weist Vorwürfe der USA zurück

Die kommunistische Regierung in Peking wies die Vorwürfe als „dämonisierend” zurück und bekräftigte, es gebe dafür keine Beweise. US-Vize-Außenministerin Wendy Sherman schlug in dieser Woche in Peking ein kühler Wind entgegen. Peking wirft Washington eine „fehlgeleitete” Politik vor und verlangt, „auf Augenhöhe” behandelt zu werden.

Nach Ansicht von ehemaligen Geheimdienstlern in Washington bewegt sich Biden mit seinen jüngsten Äußerungen auf bekanntem Terrain. Bereits die Vorgänger-Regierungen Obama und Trump hatten sich substanzielle militärische Schritte im Falle einer Cyber-Attacke mit großen Kollateralschäden für das öffentliche Leben in den USA vorbehalten.

Biden will China und Russland vor Vergeltung warnen

Mit seiner von einer Hypothese ausgehenden Zuspitzung (Krieg!) wolle Biden in Richtung China und Russland seine Warnung vor Vergeltung bekräftigen, falls weitere Groß-Attacken auf sensible Infrastrukturen aus diesen Ländern kommen sollten.

Zum andere gehe es dem Demokraten darum, die Sorge vor einer „unerwarteten Kaskade von Konsequenzen” auszudrücken, die eine Cyber-Attacke auslösen könnte, sagte der frühere CIA-Agent Larry Pfeiffer dem Magazin „The Daily Beast”.

Ex-Außenminister hält Bündnisfall für denkbar

Auch der frühere CDU-Verteidigungsminister Rupert Scholz (Amtszeit 1988 - 1989) ist überzeugt, dass Biden seine Worte als Warnung verstanden wissen wollte. Er habe der anderen Seite “wer auch immer das ist”, sagen wollen: “Wir könnten die Cyberangriffe als militärische Aggression qualifizierten – und dann ist der Fall X da”, sagte der CDU-Politiker unserer Redaktion.

Wenn eine Cyberattacke auf Energieversorgung und Telekommunikation ein Land völlig lahmlege und das Ziel habe, das Land “handlungsunfähig zu machen, dann würde man schon im Ergebnis dahin kommen müssen, dass es ein militärischer Angriff ist. Und nach einem militärischen Angriff auf einen Bündnispartner, greift der Bündnisfall automatisch”, sagte der Verteidigungsexperte.