Wolfenbüttel. Der Germanist Ralf Georg Czapla zweifelt an einem Heimatchronik-Bericht über einen Wolfsangriff im Jahr 1814 in Evessen.

In dem Heft „Stadt und Land – Nachrichten über Schöppenstedt“ ist die Rede von einer Wolfsattacke um 1814 in Evessen, der laut mündlicher Überlieferung ein dreijähriges Kind zum Opfer fiel. Angeblich handelte es sich um Wölfe, die das geschlagene französische Heer von Russland über Polen nach Deutschland verfolgten und viele erkrankte Soldaten rissen. Was ist von alten Berichten dieser Art zu halten?


Dies fragt unsere Leserin Sieglinde Schaller aus Braunschweig.

Zum Thema recherchierte
Andreas Eberhard

Es ist eine schaurige Geschichte, die unsere Leserin in einer alten Heimatchronik ausgegraben hat: In Evessen, heute Teil der Samtgemeinde Sickte, sei um das Jahr 1814 im Winter zur Dämmerstunde ein dreijähriges Kind einem Wolf zum Opfer gefallen. „Bevor helfende Männer jene Bestie erschlagen konnten, war der Wolf nach Überspringen eines über ein Meter hohen Holzzaunes mit der Beute entkommen“, zitiert die Leserin aus dem Chroniktext. Selbst stundenlanges Verfolgen der Fährte habe kein Ergebnis gebracht.

Details des Falls, der über 200 Jahre zurückliegt, lassen sich heute kaum feststellen. Selbst Eckehard Hillmar, der sich 42 Jahre lang als Ortsheimatpfleger um das historische Gedächtnis der Gemeinde Evessen kümmerte, hat von dem Bericht nie gehört: „Das ist mir nicht bekannt“, sagt er unserer Zeitung am Telefon, „ebensowenig andere Vorfälle mit Wölfen bei uns“.

Dass Hinweise auf den angeblichen Vorfall fehlen, wundert Professor Ralf Georg Czapla nicht: „Ich bin ganz sicher, dass es niemals so gewesen ist wie da beschrieben. Da wird ein Mythos aus ganz disparaten Teilen zusammengebaut“, erklärt der Germanist. An der Universität Heidelberg widmet er dem Wolf im bevorstehenden Sommersemester eine Lehrveranstaltung. Dabei will er vor allem die Vorstellungen unter die Lupe nehmen, die sich Menschen vom Wolf machen. „Diese Wolfserzählungen sind hochinteressant, und die alten Heimatchroniken sind voll davon.“

Den Wolf sieht er hier vor allem als Projektionsfläche: „Er ist angstbesetzt wie kaum eine andere literarische Figur“, sagt Czapla und erinnert an die biblische Vorstellung von der Menschheit als Schafsherde. Etwa im Psalm 23: „Der Herr ist mein Hirte.“ Die Wurzel dieser Angst rührt aus der Zeit, als sich Mensch und Wolf ernsthaft ins Gehege kamen. Mit der Rodung von Wäldern und zunehmender Viehzucht verschärfte sich der Konflikt. Nicht selten mussten Kinder außerhalb der Dörfer Schafe, Kühe oder Ziegen hüten. Für sie stellten Wölfe eine echte, unmittelbare Bedrohung dar. Spätestens seit dem 16. Jahrhundert begann der frühmoderne Staat mit seinem „umfassenden Herrschaftsanspruch gegen Mensch und Natur“ die systematische Verfolgung der Wölfe – mit dem Ziel ihrer vollständigen Ausrottung. So schreibt es der Historiker Gerd van den Heuvel in einem 2004 erschienenen Aufsatz über Wolfsjagden in Niedersachsen.

Bereits im 18. Jahrhundert ging die Zahl der Wölfe hierzulande durch Bejagung stetig zurück. Van den Heuvel schreibt: „Man hatte es immer häufiger mit einzeln zugewanderten Wölfen oder kleinen Rudeln zu tun, denen umso intensiver nachgestellt wurde, je exzeptioneller sie auftraten.“ Diese steigende Aufmerksamkeit stellt er auch bei Berichten fest: Die zahlreichen Dokumente aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über Wölfe und Wolfsjagden stünden im Gegensatz zur schwindenden Zahl der Tiere.

Gleichzeitig entwickelte die Furcht vorm Wolf ein Eigenleben. Das Raubtier wurde – nicht nur in Märchen – zum Sinnbild des Bösen schlechthin. Je weniger die Wölfe wurden, desto ausgeprägter wurde laut Czapla die Angst vor ihnen. Der Wissenschaftler erklärt sich diese Entwicklung mit einem wachsenden Mangel an Erfahrungen mit dem Tier: „Ich habe den Eindruck, dass es kein reales Korrektiv mehr gab, mit dem man die eigenen Vorstellungen hätte abgleichen können. Dadurch ist das Angstpotenzial noch gewachsen.“

Eine ähnliche Beobachtung macht Czapla bei Berichten über konkrete Wolfs-Vorfälle: „Je größer der zeitliche Abstand zwischen einem Ereignis und dem Bericht darüber, desto drastischer fallen die Schilderungen aus.“ Das könne man etwa feststellen, wenn man historische Zeitungsberichte mit später aufgeschriebenen Erinnerungen an ein und denselben Vorfall vergleiche. In der Rückschau, erklärt Czapla, würden die Vorfälle fast immer weitaus dramatischer dargestellt. Tatsächlich liegen auch beim Evesser Bericht viele Jahre zwischen dem Ereignis und der Erzählung. In der Chronik heißt es, der konkrete Fall sei 40 Jahre lang nur mündlich weitergegeben worden, bevor er aufgeschrieben wurde.

Und noch ein weiteres typisches Merkmal menschgemachter Wolfserzählungen erkennt Czapla in der „Evesser Wolfsattacke“: „Diese Geschichten arbeiten immer mit dem Bambi-Effekt“, sagt er, „das heißt, die Opfer sind immer unschuldig“. Im Vergleich zu ihnen wirke der Wolf noch böser und blutrünstiger.

In der Heimatchronik kommt indes noch ein weiteres Motiv hinzu: Die Nationalität. Indem die Wölfe angeblich die besiegte Armee Napoleons auf ihrem Rückzug aus Russland verfolgen, werden die Tiere hier zu einer Art Strafe für die Überheblichkeit der Franzosen – dafür, die anderen Länder Europas zu unterjochen. „Der Wolf steht für Stärke und Wildheit“, erklärt Czapla. Die „russischen“ Wölfe könne man durchaus als Symbol für Russland oder das russische Volk verstehen, das mit „unbändiger Naturgewalt“ die dekadenten, überfeinerten Franzosen strafe. Auch wird durch diese Hintergrunderzählung letztlich der französische „Erbfeind“ zum Schuldigen an der Wolfsattacke in Evessen gestempelt. Diese Sicht der Dinge passte durchaus in die Vorstellungswelt der Deutschen Mitte des 19. Jahrhunderts. In zeitgenössischen Akten scheinen sich indes keine Hinweise darauf zu finden, dass Wölfe den napoleonischen Truppen nach Deutschland gefolgt wären. Zumindest beim Historiker van den Heuvel spielt diese These keine Rolle.

Während viele Menschen den Wolf nach wie vor vornehmlich als Bedrohung wahrnehmen, sehen andere das Tier heute sehr positiv, wollen es um jeden Preis schützen. Tiere erhielten mitunter mehr Mitgefühl als Mitmenschen, stellt Czapla konsterniert fest: „Das ist schon eine merkwürdige Umwertung – und für mich eine Zeichen dafür, wie sich unsere Gesellschaft radikalisiert.“ Statt den Schutz jedes einzelnen Wolfes über alles andere zu stellen oder aber vehement den Abschuss um jeden Preis zu fordern, gelte es doch, sich zu fragen: „Ist die Lebensweise von Menschen und Wölfen kompatibel?“ Czaplas Antwort: „Ich fürchte, für unsere Welt ist der Wolf nicht gemacht.“